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Donnerstag, in Vientiane
18. November 1999
Die tropische Müdigkeit hat mich heute erwischt.
Nebenan erkenne ich am aufgeregten Gackern der Huehner, dass Futterzeit ist. Die Mauer ist weiß und hoch, mit Glassplittern bestueckt. Ich hätte das nicht gemacht, aber ich habe die Mauer und das Haus auch nicht gebaut, sondern nur gemietet.
Der Rasen wurde heute gemäht. Durch das Fenster kommt der Geruch zu mir herein. Drei Männer waren nötig. Einer der mähte, einer der rechte und einer der zusah. Ich lächelte, als ich das sah.
 

Sonntag, in Vientiane
21. November 1999

Gestern Abend saß ich mit meinem Nachtwächter Kai Kham vor dem Tor. Wir schauten den aufgeregten jungen Frauen zu, die in ihren langen schlanken Röcken und den Blusen, fein geschnitten zur zarten Taile, lachend zur großen Straße gingen. Dort winkten sie ein Tuc Tuc heran und fuhren eng nebeneinander sitzend zum That Luang Fest.
Zu dem Fest reisen viele Menschen extra in die Hauptstadt. Sie verschlafen die stundenlange Fahrt, nur, um dabei zu sein.
Spät in der Nacht fahren sie wieder zurück. Nur die wenigen, die Verwandte in der Hauptstadt haben, schlafen in dieser Nacht in einem Bett oder einfach auf einer Matte auf dem Boden.
Mittelpunkt des Festes ist die große Stupa, das That Luang. In der Nacht leuchten tausend kleine Lampen, und die Stupa wirkt wie ein großes, stilles Herz. Fotografen machen viele Fotos von Familien in grossen Gruppen. Erinnerungen sind kostbar und Fotos etwas Besonderes.
Die Banken werden ab Montag zwei Tage geschlossen haben.
Aber all die vielen kleinen, oft provisorischen Läden werden geöffnet sein. Sie können es sich nicht leisten zu schließen. Auch der kleine Laden gegenüber meinem Tor wird geöffnet sein.
Dort gibt es Papajasalat und Süßigkeiten. In Plastiktüten, an Fäden aufgehängt, kann man dort fast alles kaufen, auch Speiseöl, abgefüllt in kleine Tüten, für eine oder zwei Mahlzeiten. Haarshampoo, ausreichend für zwei Anwendungen, trotz der so langen Haare.  Zigaretten kann man dort einzeln kaufen, und ein Feuerzeug hängt am Reisstrohdach, um sie gleich anzuzünden.
Kahm Hu, die Tochter des Hauses, die nächste, die heiraten wird, darf nicht auf das Fest.  Ich höre oft ihr fröhliches „La gorn“, wenn sie nach Hause gebracht wird, und dann fahren drei oder vier Mopeds wieder weg.
Auch heute sind drei Mopeds mit sechs jungen Männern gekommen, um sie abzuholen.
Nein, sie kann nicht fahren, sagt sie und lacht.
Die jungen Männer bleiben eine Weile, schauen ihr zu, wie sie Papaya stampft in einem hohen, irdenen Gefäß.
Dann fahren sie. Ich denke: „Bor bpen njang!“ (Macht nichts!). Dann eben ein anderes Mal!
Wir schauen uns an und lächeln.
 

Vientiane, Montag
den 22. November 1999

Der Himmel ist noch blau-grau. Gegenüber ist schon alles dunkel, nur der Himmel ist auch dort noch hell. Die Bananenstauden sind hoch gewachsen, und die Teakbäume haben einige Samen in meinen Garten fallen lassen. Nun wächst neben dem hohen Bambus ein Teakbaum. Schon ist er größer als ich, sein Stamm ist sehr gerade. Seine Blätter sind rot-braun von der Erde, das Grün ist nur noch zu ahnen.
Bald kann der Mann wieder kommen, der ohne Hilfsmittel die Kokospalme hinaufklettert. Die Kokosnüsse sind schon fast wieder reif. Vor neun Monaten waren es 67 Nüsse.
Die beiden kleinen Palmen tragen noch keine Früchte. Vielleicht werde ich es noch sehen können in zwei Jahren. Die eine wäre dann fünf Jahre alt, aber ich fürchte, sie brauchen noch länger.
Vientiane kommt mir vor wie eine Stadt, der man unter den Rock schauen kann. Seit einem Jahr werden die Kanäle vergrößert. Die Betonröhren liegen überall an der Straße, ein Zeichen dafür, dass es diese Straße bald nicht mehr geben wird. Seit einem Jahr gibt es mehr Staub als sonst üblich. Auf dem Moped hält man sich die Hand vor Mund und Nase, schon fahren einige mit Mundschutz.
Am Straßenrand ist das Grün wieder verschwunden. In der Regenzeit hat der Regen alles abgewaschen, was nun an Staub auf Gebäuden und Bäumen liegen bleibt.
 

Vientiane, Dienstag
den 23. November 1999

Gerade rechtzeitig nach dem Mittagsschlaf der „Mutter Handel“ auf dem Markt. Die meisten Tische waren schon nicht mehr mit Reissäcken abgedeckt, und das Gemüse wurde gerade wieder mit Wasser besprengt. Das Angebot ist sehr gut, sogar ein Blattgemüse, das wie Spinat schmeckt, gibt es. Ich kaufe ein ganzes Kilo für 3.500 Kip. Ein sehr guter Preis und ich handle erst gar nicht. Eigentlich feilsche ich auf diesem Markt gar nicht mehr. Die Frauen kennen mich, und wenn ich lange nicht da war, fragen sie, ob ich in Deutschland gewesen sei. Was ich meist verneine, da ich nur alle zwei Jahre nach Deutschland fliege und erst im letzten Sommer dort war.
Die Gerüche auf dem Markt ergeben alle zusammen genommen ein lebendiges Wesen, vielleicht einen Drachen. Da gibt es den Geruch des eingelegten Fisches, der erst nach drei Monaten gegessen wird. Die graubraune Suppe in grossen, offenen Plastikschüsseln riecht für europäische Nasen etwas penetrant. Dann gibt es den Tabak in offenen Säcken. Ein herrlicher Geruch! Gleich daneben das rote Holz, das ausgekaut und ausgespuckt wird. Tabak riecht herrlich. Dann die Obsttische.  Ananas, Äpfel, Bananen, eine birnenähnliche Frucht, Melonen.
Der Markt ist eine Explosion an Farben und fröhlichen Rufen. Entspannt, ist das Wort, das mir einfällt.
An einem Stand kaufe ich Tomaten, die Mutter Handel ist nicht da. So kommt ihre Nachbarin herüber, die an ihrem eigenen Stand auch Tomaten anbietet, und verkauft mir 500 Gramm Tomaten. Gleich bei meinen ersten Einkäufen vor drei Jahren ist mir diese Konkurrenzlosigkeit aufgefallen. Noch hat sich nichts geändert.
Fleisch brauche ich heute nicht. Noch liegen die Klumpen nicht auf der Pappe. In Tonnen, die gefüllt sind mit Eis, das blockweise angeliefert wird, liegt das Fleisch kalt. Nur wenige Frauen sitzen schon auf ihren Tischen, zu ihren Füßen das Fleisch. Mit der Hand werden die Fliegen verscheucht mit einer Routine, der man die lange Übung anmerkt. Eine Bewegung, die sich selbstständig gemacht hat.
Ein Fleischstand hat schon einen Ventilator, an dem bunte Plastikstreifen munter flattern. Das Fleisch ist auch hier fliegenlos.

Hinter mir im Garten ein gewaltiges Rauschen. Ein großer Wedel ist aus der höchsten Palme gestürzt. Die Palme hat einen kerzengeraden Stamm und scheint senkrecht in den Himmel zu wachsen. Dort oben sehen die Palmwedel so klein aus. Nun liegt in der Bambushängematte ein Palmwedel, so groß wie diese.
 

Mittwoch, den 24. November
in Vientiane

Heute zog es mich aus der Stadt hinaus. Mein kleines rotes Motorrad, Gefährte nun schon auf 20.700 Kilometern. Die Sonne warf keine Schatten und der Staub ist allgegenwärtig. Die Stadt zieht sich lange, bis ich sie hinter mir habe und wirklich auf dem Weg bin. Die Straße Nr. 13 führt mich wieder einmal und ich bin vom Staub schon ganz gepudert. Tankwagen  ziehen wieder eine Wasserspur hinter sich her, nicht nur, um den Staub einzudämmen, sondern auch, um die Sandpiste zu verdichten, um die Teerdecke vorzubereiten, die auch irgendwann wieder aus der Stadt hinausführt. Mein Ziel ist Lao Pako, eine Oase der Stille.

20 Kilometer lang begleitet mich die Teerstraße, die erst im letzten Jahr fertig geworden ist. Als ich abbiege, erkenne ich die alten Löcher wieder, die vorher in der Sandpiste waren. Genau dort, wo ihr Platz schon immer war. Der Teer ist dort aufgerissen und ich sehe der Straße aufs Gerüst, dem Altvertrauten.
Die Brücke ist immer noch aus Holz, und die großen Wasserlöcher sind geblieben. Beinahe hätte ich den Wasserbüffel übersehen, hätten nicht seine Hörner in der Sonne geglänzt. Die Sonne wirft wieder keinen Schatten und doch ist das Licht sanft, die Konturen der Bäume sind nicht aus der Landschaft herausgeschnitten wie ein Scherenschnitt. Die Reisfelder sind gerade abgeerntet und die Halme sind grau. Nur die Wälle, auf denen man wie in einem Labyrinth laufen kann, sind grün

Schon liegen die nächsten Kilometer vor mir. Die Straße ist schon gewalzt und die tiefen Rillen und Löcher der Regenzeit sind schon verschwunden. Ein Bus nebelt mich völlig ein. Wieder ist das Dach hoch beladen mit riesigen Plastiksäcken,  beinahe so hoch wie der Bus selbst. Alle Fenster sind geöffnet, im Bus ist es heiß. Ich bin froh, dass ich ihn endlich überholen kann und der meterlangen Staubfahne entfliehe. Die Straße ist kaum befahren, und als ich auf seiner Höhe bin, gibt es diesen Moment, in dem ich fast nichts mehr sehen kann, verschwunden im Staub. Dann bin ich neben ihm und ich kann wieder sehen.
Die Fahrgäste, die noch nicht schlafen, winken mir zu.
Im nächsten Dorf haben die Kinder gerade Mittagspause und gehen zum Essen nach Hause. Die Mädchen in ihren langen blauen Röcken mit  breiten weißen, gewebten Borten am Saum. Die Jungen tragen schwarze Hosen und weiße Hemden wie die Mädchen. „Sa bei di“ rufen sie mir fröhlich zu und winken.
Die letzten 3 Kilometer geht es mitten durch den Busch, die Straße ist sehr holprig und schmal. Noch sehe ich die Stellen, die in der Regenzeit eine Herausforderung wären, jetzt aber gut zu umfahren sind. Eine Stelle gibt es immer noch, die mit dem Auto schwierig wäre.
Ich habe diese Strecke gewählt, weil ich nicht weiß, wie gut die Baumstämme über der kleinen, aber tiefen Schlucht in Schuss sind.
Kurz vor meinem Ziel halte ich an und wasche mir das Gesicht mit Wasser aus der Flasche. Ein Badezimmer in der Natur, in der Ferne die Berge, ich genieße den Augenblick.
Die letzten 500 Meter.
Kleine Häuser stehen hier dicht zusammen, Bambusmatten und Holz. Einziger Kompromiss: Ein Badezimmer, das nach Holz duftet, wenn man duscht, und das Wasser läuft durch den Fußboden ab.
Dann der Blick auf den Nam Ngüm, den milchkaffeebraunen Fluss. Eine lange, träge Kurve bildet der Fluss, und gegenüber der Wald - grün. Grün ist nicht einfach grün.
Ab und zu ein Vogelruf, der vom gegenüberliegenden Ufer kommt.
Auch die Touristen, die heute für ein oder zwei Tage hier sind, genießen die Ruhe, atmen anders als in Vientiane. Auf dem Weg hierher im überfüllten Bus sind sie wirklich in Kontakt gekommen mit Laos oder der Ahnung, was Laos alles ist.
Auf dem Rückweg sehe ich meinen Schatten auf der Sandstraße, jedes einzelne Haar, das sich aus meinem Zopf gelöst hat und ich denke: In diesem Moment bin ich wirklich dort, wo ich gerne sein möchte und tue genau das, was ich tun möchte!
 

Vientiane, Donnerstag
den 25. November 1999

Heute bin ich den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Sun Pan hat gekocht, und ich habe kaum etwas gegessen. Eine Erkältung bei 28 °C, in Deutschland könnte sie nicht schlimmer sein.
Gestern Abend habe ich mich schon sehr müde gefühlt. In der deutschen Botschaft war Kino. Rainer zeigte den Film: Der Campus, auf den ich mich schon seit Wochen freue. Außerdem war ich verabredet mit Klaus, einem Freund von Carsten, der am Freitag schon weiter nach Chiang Mai reist. Da konnte ich nicht absagen.
Der Tag paßte zu meinem Kranksein. Die Sonne war den ganzen Tag nicht zu sehen, der Himmel ein riesiges, grau-weißes Blatt Papier. So habe ich weniger das Gefühl, etwas versäumt zu haben.
Auf der Terrasse schläft der rot-weiße Kater, die Vorderpfoten vor die Augen gelegt. Sein schwarzer, scheuer Bruder ist noch nicht zu sehen, erst, wenn ich in die Küche gehe, dann wird er auf der Mauer stehen und mich anmiauen. Als ob er mich bannen wollte mit seinen bernsteingelben Augen. Leider hat ihre Mutter ihnen das Feld überlassen und ist verschwunden. Mit der Tochter aus ihrem ersten Wurf. Wie Zwillinge sahen sie aus, nur der Größenunterschied half mir, sie auseinander zu halten.

Schon 18 Uhr. Im Wat wird die lange Glocke im Glockenhaus angeschlagen. Schläge in langen Abständen, bis die Abstände immer kürzer werden und am Ende nicht mehr zu hören sind.
 

Vientiane, Sonntag
den 28. November 1999

Kai Kham sitzt vor dem Tor. Aus seinem kleinen Taschenradio erklingt ein altes laotisches Volkslied. Der
Sprechgesang weht bis zur Terrasse, arabisch hört er sich an. Die Stimme der Sängerin ist rau. Ich lasse mich davon tragen, auf das Land, die Reisfelder. In die Häuser, die ich auf einer Reise durch Laos sah, erhellt vom Feuer und die Menschen als Schatten davor. Diese Feuer in der Nacht waren die einzigen Lichter. Immer noch gibt es viele Dörfer ohne Strom. Wieder diese Lust, noch einmal übers Land zu reisen, denn Vientiane ist nicht Laos, das wird mir immer wieder neu bewusst, sobald ich Vientiane verlasse. Ich weiß es die ganze Zeit, die ich in Vientiane bin, aber ich weiß auch, dass es da draußen noch ein ganz anderes Leben gibt. Näher bei den Geistern und näher an der Natur, die ernährt. Der tägliche Gang in den Wald, kein Spaziergang, sondern Nahrungsbeschaffung. Die Plakate der zu schützenden Tiere wird wie eine Speisekarte gelesen: Dieses Tier schmeckt, jenes nicht.
Artenschutz ist Luxus in Entwicklungsländern und doch so notwendig. Es ist schwer, Traditionen zu verändern, wenn es kaum Alternativen gibt. Aus einem Jäger und Sammler wird nicht so schnell ein Viehzüchter.
In Vientiane hat jede Familie eigene Enten und Hühner. Der Wasserbüffel wurde noch nicht vom Traktor verdrängt, ein Traktor ist teuer.
Kai Kham sagt, dass er für einen Traktor 5 erwachsene Wasserbüffel verkaufen müsste. Seine Familie hat zwei Wasserbüffel.
 

Vientiane, den
29.  November 1999

Heute Morgen war eine Karte aus Heidelberg in der Post. Schon fast Dankbarkeit, dass es Freunde gibt, die Briefe schreiben. Ich hebe alle Briefe auf, und ich brauche inzwischen einen Aktenschrank, so viele sind es geworden. Manchmal, wenn ich mich allein fühle, dann lese ich ein oder zwei Briefe. Selten bedarf es mehr, und ich fühle mich nicht mehr allein. Meine Freunde in Deutschland sind ganz wichtige Wurzeln. Alle sind mir wichtiger geworden, die wenigen, die ich verloren habe, waren meist einseitig . Ballast, einfach verschwunden. Der Alltag reist natürlich mit aus, das wird oft vergessen, ich lese es in den Briefen. Es gibt keine Seelenentschlackung auf diesem Weg.
Manchmal denke ich aber auch an Verwandte, vor allem an die, die schon sehr alt sind und bald gehen könnten. Gespräche, die dann für immer verloren sind.
 

Vientiand, Dienstag,
den 30. November 1999

Vientiane. Laos. Asien.
Jedem dieser drei Worte wohnt ein starker Zauber inne. Ein Bilderbuch, einmal aufgeschlagen, überschwemmt es mich mit Bildern.
Jetzt schon fängt die Erinnerung an. Hinter meinen geschlossenen Lidern wachsen Reisfelder und Menschen, die ernten. Ihre spitzen Hüte schützen das Gesicht vor der Sonne. Die Kleidung ist lang und viel zu groß. Die Sonne entdeckt jeden ungeschützten Flecken Haut. Ein Farmer ist ein Mensch mit dunkler Haut, keiner möchte dunkle Haut. Selbst Pullover werden aufgetragen, und vertraute Menschen erkenne ich erst auf den zweiten Blick.
Heute bin ich mit meinem Moped zur Bank gefahren. Aber zuerst war ich an der Internationalen Schule. Ich habe das Kinderkinoprogramm geändert. Am 19. Dezember wollte ich den Weihnachtsfilm in der deutschen Botschaft zeigen. Die meisten werden dann aber schon im Urlaub sein. Heimaturlaub oder Urlaub in unseren Nachbarländern. Den Film zeige ich nun eine Woche früher. Dank einer geschickten Fügung habe ich sogar Dominosteine, Lebkuchen und Zimtsterne - eine wirkliche Überraschung, für die Kinder.
In der Bank habe ich mir den neuen DM-Kip-Kurs aufgeschrieben. Sun Pan und Kai Kham bekommen heute ihren Lohn. Seit ich vor drei Jahren in dieses Land kam, ist der Kurs sehr gefallen.
Im April 1996 gab es für 1 DM 625 Kip. Heute bekommt man für 1 DM 4.159 Kip.
Die Talfahrt hat sich verlangsamt, ich hoffe, dieser Zustand hält eine Weile an.
 

Vientiane, Dienstag den
8.  Dezember 1999

Wieder hat sich so ein kleines Huhn in meinen Garten verirrt, nicht wissend, dass ein schwarzer, verspielter Hund dort ist. Nicht das erste Huhn, das diesen Fehler beging. Die meisten sind die 12 Kilometer mit Sun Pan nach Hause gefahren in einer Plastiktüte im Lenkerkorb. Inzwischen haben sie schon erfolgreich dort gebrütet. Sun Pan hat jetzt eine kleine Hühnerzucht für ihre Familie.
Das Huhn von heute sieht ganz gerupft aus, die Federn wachsen erst noch. Leslie hat es schon entdeckt, und los geht die Jagd. Die kleine Stimme reicht gerade für ein verzweifeltes Piepsen. Durch die offene Tür rennt es ins Haus direkt in die Küche. Sun Pan ist im Hühnereinfangen viel besser als ich, und ich überlasse es ihr und arbeite weiter. Froh, nach sieben langen Tagen endlich wieder Zugang zum Internet zu haben.
Eine Stunde später nutzt das Huhn die Stille im Haus und wagt sich aus seinem Versteck. Erstaunt schauen wir uns kurz an. Das Huhn versucht, sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden, aber Sessel sind nicht geeignet, um sich lange zu verstecken. Ich öffne beide Flügel der Tür, und schon bald entdeckt es den Fluchtweg. Zum Glück döst Leslie hinter dem Haus in der Sonne. Da die Hündin und ich unterschiedliche Interessen haben, gäbe es ein kleines Durcheinander. Mit einem Rattanbesen bewaffnet folge ich dem Huhn. Erst, als das Tor ganz geöffnet ist, läuft es auf den Sandweg. Geradewegs zu Kam Hus Laden. Sie lacht mit ihren Kundinnen, die aus der nahen Näherei gekommen sind. Sie stampft den Papayasalat im Mörser und bemerkt nicht die glückliche Heimkehr des kleinen Huhnes, das unter dem Tisch, vorbei an ihren Beinen, zu den anderen Hühnern und Gänsen läuft. Gerettet! Dieses wird sich vielleicht  nicht mehr in meinen Garten verirren.
Ich denke an die kleine Ente, die vor über einem Jahr mitten auf der großen Straße lief, ganz allein. Ich hielt an und nahm sie mit nach Hause. Ein paar Tage später brach sie sich das Bein. Ich wollte es schienen.
Kai Kham meinte, das sei nicht nötig, das wächst sich aus. Eine Woche später war es zu spät und sie humpelte die ganze Zeit. Leslie gab es damals noch nicht.
Arme Ente. Kai Kham freute sich, wie schnell sie wächst. Eine Ente ist eine Ente. Sie kam dann auf sein Feuer.
Entenblut schmeckt sehr gut, ich glaube es ihm einfach.
Heute Abend kam Seng, sein Bruder. Kai Kham blieb zu Hause bei Ohn, seiner Frau, um ihr mit dem Baby zu helfen, das so unruhig war den ganzen Tag. Vielleicht kommen Geister heute Nacht.
 

Vientiane, Donnerstag den
9.  Dezember 1999

Das Licht aus meinem Arbeitszimmer fällt auf den großen Litchibaum, und ich muss lächeln, denn er sieht aus wie ein großer Vogel, dem die Federn mächtig durcheinander geraten sind. Es regt sich dennoch kein einziges Blatt. Von der Straße ertönt Lachen, sicher sind wieder viele Leute vor Kam Hus Laden. In der Ferne erklingt Musik, aber bis zu mir dringt nur das dumpfe Trommeln des Basses. Eine Hochzeit, nehme ich an. Die Braut, die Haare zu einem Kegel geformt, mit einer goldenen Perlenkette umwoben. Der Schmuck, den sie trägt, ist vielleicht geliehen.
Kai Kham und Ohn haben nicht geheiratet, sie hatten dafür kein Geld. Viele Paare leben so zusammen.
Eine gute Hochzeit ist eine, bei der viel Geld zusammenkommt und die Ausgaben gedeckt sind. Am Eingang des Festes empfängt das Brautpaar die Gäste. Auf einem goldenen Tablett stehen zwei kleine goldene Kelche. Man trinkt einen Whisky auf das Paar. Zwei große ineinander verschlungene Herzen stehen daneben. In den Schlitz kann man den Umschlag der Einladung stecken. Eine reiche Familie sollte viel Geld hinein tun, andernfalls gilt sie als geizig. Ich habe oft beobachtet, wie noch während des Festes die älteren Verwandten die Umschläge öffneten und Summe und Namen genau notierten, in ein Schulheft.
Oft steht das Paar stundenlang am Eingang, und ich bedauerte vor allem die Braut in ihren neuen Schuhen wegen der schmerzenden Füße.
Wenn endlich alle Gäste da sind, dann geht das Paar mit dem kleinen Tablett herum. An den Handgelenken weiße Basifäden mit den guten Wünschen derer, die bei der Basi dabei waren: Familie und enge Freunde. Die Mönche sind schon gegangen, bevor das große Fest beginnt. Ohne diese Zeremonie gibt es keine Hochzeit.
Nie sah ich ein Brautpaar auf seiner Hochzeit essen.
So traditionell die Braut gekleidet ist, so volkstümlich ist auch die Musik. Der Bräutigam trägt meist einen westlichen Anzug, das traditionelle Beinkleid ist nur noch selten zu sehen.
Lamvong heißt der Tanz. Ein Tanz ohne Berührung.  Die Paare stehen einander gegenüber, alle zusammen bilden zwei Kreise. Man schaut sich nicht an, die Hände bewegen sich anmutig, so, als erzählten sie eine Geschichte.
 

Vientiane, Freitag den
10.  Dezember 1999

Sun Pan bringt mir den Milchkaffee auf die Terrasse. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber wenn sie den Kaffee macht, schmeckt er viel besser, auch der Duft zieht durchs Haus und lockt mich aus jedem Winkel. Vielleicht ist es auch einfach nur, ein bisschen verwöhnt zu werden. Sun Pan weiß genau, wie viel Milch ich nehme und wie stark der Kaffee sein muss. Eine ganz besondere Vertrautheit.
Vor ein paar Tagen habe ich mir ein anderes Haus angesehen. Seit Monaten befürchte ich, dass die Mangobäume gefällt werden müssen und der Garten viel von seinem Zauber verliert. Deshalb habe ich  mir das andere Haus angesehen. Es gefiel mir gut. Vor 40 Jahren stand an der gleichen Stelle das Stelzenhaus der Familie. Im neuen Haus wurde das Holz mit verbaut. Ein Haus mit Geschichte also. Zum Damm ist es ein Katzensprung, und schon träume ich von Sonnenuntergängen am Mekong mit Leslie an der Leine. Die Mönche im nahen Wat würden mich auch gut kennen lernen.
Aber von allem anderen ist es zu weit entfernt - von der Internationalen Schule, vom Büro und von der Stadt. Mit Auto und Moped ist das zu schaffen, aber was ist mit Sun Pan, die ohnehin schon täglich 12 Kilometer von Ban Hong Suphab mit ihrem Fahrrad zu mir fährt. Ohne sie würde ich nicht umziehen.
Sie hat sich sehr gefreut, als sie das hörte.
Nach der letzten Stunde Mathematik fahre ich nach Pakxan. Ich werde dort wohl im Dunkeln ankommen, da heißt es, noch vorsichtiger fahren. Die großen schwarzen Felsen auf der Straße können leicht ein schlafender Büffel sein, der die allerletzte Wärme speichert. Menschen, die Karren hinter sich herziehen, auch sie tauchen erst im letzten Moment aus der Dunkelheit auf. Wenn es ein Auto, einen Lastwagen oder ein Moped auf der Gegenfahrbahn gibt, ist es wichtig, sich die Schatten zu merken, die wie ein Scherenschnitt für einen kurzen Augenblick vom Dunkel gelöst werden.
Einmal stand eine Kuh mitten auf der Straße in derselben Farbe wie die Dunkelheit. Ich sah sie im letzten Moment und konnte bremsen und ausweichen. Ihre Augen wirkten extrem gelangweilt oder gelassen, ich weiß es nicht. Jedenfalls musste ich trotz des Schreckens einige Kilometer lang lächeln.
Leider weiß ich nicht genau, wo Utas Haus ist. Ich werde im Dunkeln suchen müssen. Wenn es zu schwierig wird, dann frage ich die Leute nach der Frau mit der hellen Haut, der Ausländerin. So viele Falangs leben ja nicht in Pakxan. Ich glaube, es sind zwei.
26 Kilometer hinter Vientiane kommen drei Dörfer mit den klangvollen Namen Dorf Lakxau das Erste,
Dorf Lakxau Nr. 7, Dorf Kilometer 36. Wieder werde ich der Straße Nr. 13 folgen. Erst vom Mekong weg und dann die ganze Zeit an ihm entlang. Von der Straße aus ist er nicht oft zu sehen. Dichter Busch verdeckt die Sicht. Bis Pakxan sind es 80 Kilometer. Uta meinte, ich werde 2 Stunden brauchen. Sie wird es wissen.
Seit gestern quietscht meine Fußbremse. Das muss wohl so sein. Vor jeder längeren Fahrt ist es so gewesen. Schöne Technik! In Laos sind 80 Kilometer eine lange Reise. Ich fahre nicht zur Werkstatt, ich denke, es geht auch ohne.
Ich werde eine Nacht in Paxan bleiben. Ich freue mich auf ein langes Gespräch mit Uta.
 

Vientiane, Samstag den
11. Dezember 1999

Halb fünf war es gestern Abend, als ich das „Anusavali“, eines der Wahrzeichen von Vientiane, im Rückspiegel sah. Gegen 18 Uhr war es dunkel und bitterkalt. In meine Richtung fuhr kein Auto, an das ich mich hängen konnte. So fuhr ich, sobald es dunkel wurde, nur noch 60 km/h, was unter anderem auch einem Frosch das Leben rettete.
Erst bei einer heißen Suppe wurde mir wieder warm. Später saßen Uta und ich auf der kleinen Terrasse und schauten in einen unglaublichen Sternenhimmel, eingerahmt von drei mächtigen Palmen, die erst ein paar Meter hoch waren, sodass sich die riesigen Palmwedel eindrucksvoll vor den Sternen ausnahmen.
Später hallte der Ruf eines Hahnes ganz in der Nähe durch das Dorf, und ein anderer weit in der Ferne antwortete. Dann eine Erwiderung, die kaum noch zu hören war, und wieder ging es ganz in der Nähe los. Immer geht dem Ruf ein Flügelschlagen voraus. Als riefen die Hähne durch die Nacht: „Bei mir ist alles in Ordnung, bei dir auch?“. Dieser Satz wird solange weitergeleitet, bis die Kette sich schließt. In Pakxan krähen die Hähne etwas früher als in Vientiane. Das Rufen begann um 1 Uhr. Eine Weile hörte ich zu, dann schlief ich ein.

Heute konnte ich dann all das sehen, was mir die Dunkelheit gestern vorenthalten hatte. Die Reisfelder stehen schon im Wasser, und in der Sonne sahen sie aus wie riesige Spiegel. Die Saat ist gerade erst aufgegangen, und nur bei genauem Hinsehen sehe ich das erste zarte Grün knapp über dem Wasser. Eine Woche noch, und die Landschaft leuchtet in einem feinen, jungen Grün. 154 km sind es von Pakxan bis Vientiane.
Mein Motor hört sich richtig gut satt an. Das Moped ist mit mir gewachsen. Als die Bergkette im Rückspiegel verschwindet, halte ich an und genieße das Bild. Ab jetzt bin ich schon auf dem Weg zurück in die Ebene. Ich übertreibe vor mir selbst ein bisschen, denn eigentlich fangen die Berge erst viel später an. Ich blicke zurück auf mehr als eine Hügelkette. Von dort komme ich her.
Es tut gut, wieder unterwegs zu sein.  So nach und nach habe ich alles ausgezogen und die Ärmel des Hemdes hoch gekrempelt. Auch die Sonnenbrille brauche ich wieder, sonst macht die Sonne meine Augen zu Schlitzen und ich blinzle. Meine unvermeidlichen Tücher flattern hinter mir her. Angefangen haben sie als Talisman, jetzt geht keine längere Tour mehr ohne sie. Ob mich manch einer wiedererkannt hat?
In den Dörfern winkt man mir zu, und so oft ich mich durch Kühe und Wasserbüffel schlängeln muss, empfängt mich offene Neugier. Mein Gesicht wird durchforscht, und immer die Frage: Woher ich komme? Alle wissen, dass ich nach Vientiane fahre. Wohin noch, danach fragt niemand.
An der Straße kaufe ich an einem Holzschuppen  Benzin. Mein Moped hätte Super verdient, aber das gibt es außerhalb von Vientiane nicht. So kaufe ich 2 Liter Normal. Obwohl ich mich schon längst an die verschiedenen Flaschen gewöhnt habe, lache ich, als der Mann den Flaschenhals in den Tank steckt und ich sage: „Coca Cola.“ Auf der Fahrt wundere ich mich, wie die Flaschen hierher gekommen sind, denn im ganzen Land wird Pepsi getrunken und Coca Cola, wenn überhaupt, nur in Dosen. Vielleicht haben diese Flaschen eine Geschichte.
 

Vientiane, Montag
den 13. Dezember 1999

Gestern bekam ich die traurige Nachricht, dass mein wunderbarer Onkel Harald gestorben ist. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Am späten Abend versuchte ich, mir meine liebe Tante Anna vorzustellen, wie sie am Sarg stehend zum letzten Mal Abschied nimmt. Ich hoffe, ihre Stärke kommt ihr zu Hilfe.  Für sie ist es am schlimmsten, und ich stütze sie aus der Ferne, soweit es mir möglich ist.
Mein Abschiednehmen ist verhindert, und es schmerzt mich sehr, es wird mir immer fehlen. Ich bekomme keinen Flug. Unmöglich ist es, einen Flug von Deutschland zurück nach Bangkok zu bekommen. Bangkok/Frankfurt ist auf Warteliste zu bekommen.
Ich bin froh, dass ich die Briefe von Onkel Harald habe. Ich werde sie lesen und immer wieder lesen können. Das ist mir ein Trost.
Ein wunderbarer Mensch hat diesen Planeten für immer verlassen.
 

Vientiane, Dienstag
den 14. Dezember 1999

Den ganzen Tag habe ich mich mit dem Tod in der Literatur beschäftigt und habe viele schöne Zeilen gefunden. Vor allem bei Rilke. Zum Beispiel in seinem Requiem für Clara Westhoff im Buch der Bilder. Auch in Für eine Freundin, welches er in Paris schrieb, 1908.
Aber auch bei Brentano, den ich dabei entdeckte.
So viel Trost konnten mir die Worte geben. Ich stelle fest, dass nichts wirklich verloren geht und wie wichtig es ist, meinen Onkel Harald jetzt in mir weiter leben zu lassen. Es ist wahr: Die Toten sind erst tot, wenn wir sie vergessen. Ich habe seine Briefe und ich kann sie lesen ohne große Traurigkeit. Er nannte mich scherzhaft „Robinson“, seit ich in Laos lebe, und ich lächle wieder.
In Gedanken werde ich seinen letzten Gang begleiten. Wie gerne würde ich Tante Anna stützen und bei ihr sein. Sie muss den größten Abschied von allen tun, und ich weiß, es wird sehr lange dauern. Es kann kein Trost sein, dass sie nicht die erste Frau ist, die Abschied nimmt vor der Zeit. Dieser Schmerz ist ihr Schmerz. Das ist mir jetzt der größte Schmerz, dass sie trotz aller Freunde, Verwandten, Telefonate und Briefe dazwischen nun so alleine ist. Der Friedhof ist nahe ihrem Gartentor. Nur ein Feldweg liegt dazwischen. Ein kleiner Trost, diese Nähe.
Sie liebt ihren Garten sehr. Zu allen Pflanzen hat sie eine Beziehung, und ich weiß, wenn sie durch den Garten geht, dann trifft sie ihre kleinen Freunde. Es schmerzt mich, dass jetzt Winter ist und ihre Hände ruhen müssen. Die Wintervögel werden zu ihr kommen, denn seit den Jahren meiner Kindheit sorgt Tante Anna für sie. Trotz allem wird sie die Vögel nicht vergessen und sie füttern wie an jedem Morgen.
Vielleicht erkennt sie einen wieder, der bereis im letzten Jahr Gast an ihrer Tafel war. Meine Tante Anna kann so etwas!
Die Lücke ist nicht zu schließen. Sie weinte, als sie sagte: „Ich muss jetzt stark sein für ihn. Das Leben geht weiter.“ Und zum ersten Mal klang es nicht wie gedankenlose Sätze.
Die Zeit heilt Wunden, auch das ist mehr als eine Redensart. Ich nehme alle Vorbehalte zurück und zum ersten Mal erkenne ich die Wahrheit darin.
Die Zeit wird lang sein, sehr lang.
Auf dem Grab werden Orchideen sein, auch wenn sie gleich erfrieren. Orchideen wachsen in Laos. Ein letzter Gruß und auch hier spüre ich, wie wichtig dieser Brauch ist.
Ich hoffe, sie findet einen Menschen, der ihr zuhören kann, wann immer sie über Onkel Harald reden möchte.
Denn schon jetzt schrieb mir meine Schwester Monika: Es ging zu wie auf einem normalen Verwandtentreffen. Allerdings weiß ich nicht, was Tante Anna lieber gewesen wäre, vielleicht war es ja für sie so besser. Sie hat zweimal das Gespräch auf seine Gesundheit im Urlaub und dann aufs Krankenhaus gebracht und wie gut es für sie ist, dass der Friedhof am Ende ihres Grundstücks ist. Ich hatte das Gefühl, sie hätte gerne mehr erzählt, aber vielleicht irre ich mich ja auch.
Reden und Zuhören, auch Weinen können heilsam sein.
Auf meinem Schreibtisch liegt ein angefangener Brief an Tante Anna. Die erste Perle einer langen Kette.

Mein Laotisches Tagebuch hat nun traurige Seiten, aber auch das ist Leben. Solange ich fühle, werde ich reich sein!
 

Vientiane, Donnerstag
den 16. Dezember 1999

Heute war die Beerdigung von Onkel Harald. Ich versuche zu schreiben ....

Draußen in der Garage klappert Leslie mit seinem Fressnapf. Die letzten Reste werden gründlich aufgeleckt. Sie ist angeleint, damit sie den beiden Katern nicht das Fressen klaut. Die Kater brauchen länger, sie fressen langsamer. Sie wurden oben im Dach geboren und waren sehr scheu, bis sie endlich runter kamen.  Einen Tag nach ihrer Geburt hat Lars mir geholfen, sie in die Küche zu holen. Genevra, die Mutter, hat dann eine nach der anderen wieder unters Dach geschleppt. Über dem Badezimmer habe ich es oft rascheln hören.
Eigentlich waren es drei Katzen - zwei ganz Schwarze und eine Rotweiße. Eine Schwarze ist vor einem Monat verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt.

Kai Kham ist heute Abend nicht gekommen. Er ist müde. In diesem Jahr will er den Reis für sich und Ohn alleine pflanzen. Seine Mutter hat ihm ein Reisfeld überlassen. Seine Schwägerin hilft ihm. Eine Woche wird sie nicht in der Näherei arbeiten. Ohn kann nicht pflanzen, sie muss bei dem Baby bleiben.
Das Feld sieht klein aus. Ich war am Dienstag draußen und habe gesehen, wie viel sie seit Sonntag schon gepflanzt haben. Erst eine kleine Ecke des Feldes ist schon grün. Die Setzlinge gebündelt, wartend. Es sieht nicht so aus, als könnten sie es schaffen. Kai Khams Bruder Sun Päd hat Freunde eingeladen, dessen Feld ist schon viel weiter.
Kai Kham und Ohn brauchen 36 kg Reis pro Monat. Der Reis von der letzten Ernte ist im Vorratshaus von Kai Khams Eltern. Wie das Wohnhaus steht auch das Vorratshaus auf Stelzen.

Seng sitzt vor dem Tor.

Einige Stunden später:

Der Mond am Himmel sieht aus wie eine Schüssel, und hell leuchtet er durch die Blätter der Mangobäume. Seng ist schon ins Bett gegangen, und draußen vor dem Tor ist es still. Kein Moped fährt mehr vorbei. Es ist kurz nach 23 Uhr.
Von Kam Hus Laden wehen leise Stimmen zu mir auf die Terrasse. In die Stille hinein schreit eine Frau. Als die kurzen Schreie wieder kommen, weiß ich sie zu deuten. Ein Hund jault. Die Stimmen sind nun ganz verstummt, alles ist still. Ich warte. Es ist, als warteten wir alle. In Gedanken stehe ich vor dem Haus, in dem jetzt in diesem Augenblick ein Kind geboren wird. Wieder kurze, kräftige Schreie und Stimmen, die aus dem Haus kommen. Irgendwo unten im Dorf. Ich höre Kam Hus Stimme, selbstbewusst: „Por läo.“ Schon alles!.
Sie nehmen ihr Gespräch wieder auf, leise anfangs.
Erst beim zweiten Mal bin ich sicher, dass das zarte Stimmchen nicht einer Katze gehört.
 

Vientiane, Samstag den
18.  Dezember 1999

Es ist kalt geworden. Der laotische Winter hat angefangen. Frierend schaue ich auf das Thermometer. Auch jetzt sind es noch 23°C. Draußen zirpen die Zikaden, und ein leichter Wind kommt durch das geöffnete Fenster vor mir. Im australischen Klub hat wieder die Saison der Schweden angefangen. Sie sind fast die Einzigen, die noch im Pool schwimmen. Ich bin auch beim Schwimmen nicht warm geworden und war schnell wieder draußen. Dann trank ich doch lieber einen Kaffee und schaute den Farmern zu, die ihre handtuchgroßen Felder neu bestellen. Mit spitzen Hüten pflanzen sie Frühlingszwiebeln. Die vier Papayabäume sind im letzten Monat schon sehr hoch geworden. Der Mekong ist seiner Farbe treu geblieben, wie immer milchkaffeebraun.
Nur wenn die Sonne schon sehr schräg steht über Thailand am anderen Ufer, dann wird der Mekong zu flüssigem Silber. Die langen schmalen Boote fahren dann hinaus und die Fischer werfen stehend ihre schon braun gefärbten Netze aus.
Ich blieb, bis die Sonne rot unterging und die Fischerboote verzauberte wie ein Bild aus einem Traum, den ich bestimmt in Deutschland träumen werde in einer noch fernen Zukunft.
 

Vientiane, Sonntag den
19.  Dezember 1999

Heute Nachmittag fuhr ich zu Kai Kham. Er schlief unter dem großen Baum, der ganz alleine steht. Dort, wo die Reisfelder beginnen. Die Kinder seines Bruders spielten mit mir und wir lachten viel. Kai Kham wurde nicht wach, auch nicht, als seine Mutter ihn schüttelte. Ich lachte und bat sie, ihn schlafen zu lassen.
Seit einer Woche pflanzt sie mit ihren anderen Söhnen die Felder für die Familie. Noch eine Woche, dann wird sie fertig sein. Sie zieht eine lange Hose unter ihren Zinn und legt den Zinn zusammen. Dann geht sie auf dem Reiswall zum Feld. Immer kleiner wird sie, diese starke Frau, die 12 Kindern das Leben geschenkt  und 6 davon verloren hat. Sie lacht gerne, und bei Familienfesten singt sie die alten Lieder.
Freunde von Kai Kham kommen. Sie schütteln ihn, bis er wach wird. Sie haben einen Hahn mitgebracht. Der Hahn kommt aus Pakxe, 16 Busstunden von Vientiane entfernt. Kai Khams Hahn und der seiner Freunde sollen miteinander boxen. Ich solle doch unbedingt mitkommen.
Eine Arena aus Pappe wird improvisiert und die Hähne werden einander gezeigt. Noch werden sie gehalten. Als die Kämme anschwillen, lassen sie die Hähne aufeinander los. Die Hähne sind zu kostbar, als dass sie sich ernsthaft verletzen dürfen, und nach einigen kleinen Kämpfen werden sie eingefangen. Ein Tuch und sauberes Wasser werden herbeigeholt. Die Hähne werden abgewischt, eine kleine Feder wird wieder gerade gebogen, und ich glaube nicht, dass die Männer jemals ihre Hähne zu einem wirklichen Kampf hergeben.
Als Kai Khams letzter Hahn gestorben war an einer Krankheit, hat er mir traurig gesagt, dass er von dem Fleisch nichts essen konnte.
Die Hähne werden eingesperrt, Kai Khams Hahn darf wieder zu seinen Hühnern. Wir  gehen zurück zu den Reisfeldern. Kai Khams Freunde  sind gekommen, um ihm beim Pflanzen zu helfen.
Ich setze mich auf den Reiswall und schaue ihnen zu. Die Sonne steht schon schräg, und das Wasser im Feld wird silberfarben. Sie pflanzen den Reis ins Silber, denke ich.
Die Beine sind bis an die Waden schlammbedeckt. Die jahrelange Übung beim Pflanzen kann ich sehen. Ich stelle mir die Reihen, die ich pflanzen würde, krumm und schief vor.
Morgen werden sie fertig sein.
Ich habe versprochen, mit einem Kofferraum voll Bier wieder zu kommen.
Morgen machen wir ein kleines Fest.
 

Vientiane, Montag
den 27. Dezember 1999

Es ist ungewöhnlich kalt in Vientiane.  Niemand kann sich daran erinnern, dass es schon einmal so kalt war, auch Kai Khams Mutter nicht. Wenn ich jetzt durch die Stadt fahre, dann kann ich hier und dort Feuer sehen. An den Feuern sitzen ganze Familien und wärmen sich an den gelben Flammen. Keiner in Laos ist auf diese niedrige Temperatur vorbereitet. Am Dtalat Sau tauchen ganze Säcke mit Pullundern und Pullovern auf. Man trägt mehrere Schichten übereinander. Viele Füße in Plastikschlappen sind nackt.
Heute Morgen hatte einer der Wellensittiche tot im Käfig gelegen. Sun Pan hat gesagt, er sei erfroren. Den anderen habe ich ins Haus geholt und abgedeckt. Am Abend ist es im Haus deutlich wärmer als draußen. Am Tag ist es umgekehrt und ich sitze mit den Katzen auf dem warmen Beton an der Rinne, die ums Haus läuft.
Wenn gespült wird oder die Waschmaschine das Wasser abpumpt, dann läuft es an uns vorbei. Schmutziger, weißer Schaum.
Ich denke an die häufigsten Ursachen der Säuglingssterblichkeit: Lungenentzündung, Malaria und Durchfall.
Wie vielen kleinen Wesen, vor allem der Bergvölker, mag diese Kälte das Leben kosten?
Die Umsiedlung einzelner Stämme ist schon erfolgt. Manche in Gebiete, wo es kaum noch Bäume gibt, da das Land für den Reisanbau urbar gemacht wurde. Das Feuerholz muss von weither heran geschafft werden. Die Last auf dem Rücken und lange Fußmärsche.
In Nordlaos, in der Provinz Xieng Khouang, wurden gestern  4 ° C gemessen.  Die Hochebene von Xieng Khoung liegt 1.200 Meter über dem Meer. In früheren Jahren gab es Nachtfröste nur gelegentlich, jetzt scheinen sie die Regel zu sein.
 

Vientiane, Mittwoch
den 29. Dezember 1999

Heute fuhr ich mit dem Auto über die Freundschaftsbrücke nach Thailand. Noch Ende November war der Mekong 700 Meter breit. Jetzt sind die Ufer auf beiden Seiten 10 Meter tiefer. Auf der thailändischen Seite sind die wandernden Restaurants wieder da. Viele Bambushütten, dicht nebeneinander gebaut. Dort gibt es fast alles, was die thailändische Küche zu bieten hat. Ich fuhr nach Udon Thani, 60 Kilometer. Bald ist die Straße fertig, dann hat jede Fahrbahnhälfte  4 Spuren. Die Orte an der Straße sind jetzt schon durchschnitten, und die Geschwindigkeit ist Schwindel erregend - 120 km/h. Das Überqueren der Straße ist nicht ungefährlich. Das letzte Teilstück der Straße Nr. 2. Bis Bangkok an einem Tag!. Den Preis zahlen die anliegenden Orte und Städte. Schon jetzt verdienen die Tankstellen am meisten.
Udon Thani ist eine Stadt, die wie Popkorn über die Grenzen wächst. Die Gebäude sehen einander so ähnlich, dass ich mich jedes Mal verfahre, wenn ich die gewohnte Strecke verlasse. Udon Thani gehörte früher zu Laos, und viele Menschen können laotisch noch verstehen. Die Thais finden es immer sehr lustig, dass eine Ausländerin laotisch spricht. Vielleicht kann ich Thai und Lao mit Deutsch und Holländisch vergleichen.
In Sukhothai traf ich einmal einen Taxifahrer, der 1975 nach Thailand ausgewandert war. Er war so froh, wieder einmal laotisch zu sprechen, dass er mich gar nicht wieder gehen lassen wollte. Wir tranken einen Kaffee zusammen.
In Udon Thani habe ich eingekauft. In einem riesigen Kaufhaus, ironischerweise ‘Robinson’ genannt, gibt es alles, was man braucht und noch viel mehr, was man nicht braucht. Ganze Schulklassen verschwinden in der Mittagspause auf den drei Etagen. Sie spielen: Ich hab die Taschen voll Geld.
Die Verkäuferinnen haben schon den geübten Blick für potenzielle Kunden. Sobald ich nur kurz stehen bleibe, steht schon eine von ihnen neben mir. Ausländer sind reich, egal, was sie anhaben. Ich trage eine ausgefranste Jeans und ein Jeanshemd vom Wühltisch. Ich glaube, eine Thai in meinem Outfit könnte etwas ungestörter Sachen anschauen. Ja, es nervt mich, und nicht immer kann ich es auch verbergen, aber ich gebe mir Mühe. Ich habe hier schon so viel gelernt, vielleicht lerne ich auch das noch.
Zweimal im Monat fahre ich nach Thailand, aber wenn ich über die Grenze komme und die laotischen Straßen mir schnell wieder ihre Geschwindigkeit aufdrücken, höchstens 50 km/h in der Stadt, dann bin ich wieder da, wo ich zurzeit sein möchte.

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